Neuroscience meets Bobath

Neuroscience meets BobathPraxis braucht Wissenschaft – und umgekehrt. Aktueller denn je war deshalb der zweitägige Workshop des Weiterbildungszentrum.de in Chemnitz. Referenten waren der Neurowissenschaftler Professor (BRA) Dr. Nelson Annunciato aus Sao Paulo in Brasilien und der Physiotherapeut und Bobath-Instruktor der IBITA Helmut Gruhn aus Frankfurt.

Therapeuten aus verschiedenen Bereichen der neurologischen Rehabilitation nahmen mit dem Ziel teil, eine Brücke zu bauen zwischen neurowissenschaftlicher Theorie und praxisbezogenen Arbeiten nach dem Bobath-Konzept.

Einstieg in die Neurowissenschaft

Professor Annunciato sprach über die neues ten Erkenntnisse der neurowissenschaftlichen Arbeiten, die für die Therapie von Patienten mit zentralneurologischen Störungen wichtig sind. Er beschäftigte sich mit den Fragen, warum Forschung und therapeutische Praxis selten in direktem Kontakt stehen und wie das Verständnis neuro – physiologischer Schaltkreise im Zentralnervensystem für die Therapie genutzt werden kann. Für die Praktiker im Publikum sicher von besonderem Interesse! Weiterhin setzte sich der Wissenschaftler mit den Chancen und Grenzen der „Evidenced Based Practice“ (EBP) auseinander und erläuterte, was fundierte, beweisbare und wirksame therapeutische Verfahren in der Medizin bedeuten. Annunciato verwies auf die in den Leitlinien der DGN 2014 (Deutsche Gesellschaft für Neurologie), in denen evidenzbasierte Kernelemente vorgegeben sind und in denen die wirksamen Bestandteile moderner Lerntheorien in der Motorik benannt sind: Intensives, alltagsnahes, aufgabenorientiertes und repetitives Üben neben ständigem Anpassen und Anheben der Anforderungen an die aktuelle Leistungsgrenze des Patienten („Shaping“). Annunciato vermittelte anschaulich und humorvoll neurophysiologische Zusammenhänge und relevante, hochwertige Studien zur Wirksamkeit therapeutischer Maßnahmen.

Das Bobath-Konzept

Die Physiotherapeutin Berta Bobath und Ihr Mann Dr. Karel Bobath, entwickelten ihr Konzept vor über 70 Jahren. Dennoch ist es ganz aktuell. Bis heute wird es ständig dem aktuellen Stand der Neuro- und Rehabilitationswissenschaft angepasst. Europaweit ist es das am häufigsten angewandte und eines der erfolgreichsten Therapiekonzepte in der Neuro-Rehabilitation. Eine lösungsorientierte Alltagsbewältigung bei neurologischen Erkrankungen, in jedem Alter und in jeder Phase der Rehabilitation, steht dabei im Vordergrund. Die interdisziplinäre und interprofessionelle Anwendung ist einzigartig und kann somit rund um die Uhr durchgeführt werden. Damit Krankenkassen die Kosten für eine Therapie nach Bobath übernehmen, bedarf es einer ärztlichen Verordnung nach den Heilmittelrichtlinien des Gemeinsamen Bundesausschusses.

Evidenz basierte Praxis

Das Besondere an dieser Fortbildung war der direkte Bezug von Theorie und Leitlinien (DGN) zur Therapie. Hierzu „übersetzte“ Helmut Gruhn, die neurowissenschaftlichen Ideen, Kernelemente und Studien direkt in das therapeutische Handeln mit einem Patienten. Er veranschaulichte in einer Graphik, dass die wissenschaftliche Forschung nur ein Teil des therapeutischen Handelns darstellt. Weitere fundamentale Bestandteile dazu sind die Wünsche und Bedürfnisse des Patienten und die Erfahrung und das Wissen des Therapeuten.

Therapeutisches Handeln

Gruhn zeigte in der Behandlung eines 80-jährigen Patienten, der schon vor sechs Jahren einen Schlaganfall erlitten hatte, die beispielhafte Umsetzung des Bobath- Konzepts an zwei aneinander folgenden Tagen. Deutlich wurde dabei die Vielfältigkeit des Konzeptes: ideenreiche, kreative, klar strukturierte, „einfache“ Vorgehensweise, gleichberechtigte Interaktion im Team Patient – Therapeut, genaue Befunderhebung, Berücksichtigung von altersbedingten Beeinträchtigungen, Einbezug der Umgebungsfaktoren sowie der Psyche und sozialer Komponenten. Danach konnte das für den Patienten wichtige alltagsbezogene Ziel gesucht und gefunden werden: Drei Treppenstufen ohne Geländer und Hilfsmittel alternierend hinuntergehen! Das war nach dem Schlaganfall nicht mehr möglich, Einschränkungen im alltäglichen Leben waren die Folge. Nach einer Bewegungs-Analyse auf der Treppe wurden die fehlenden funktionellen Elemente zur Zielerreichung von Helmut Gruhn herausgefunden, evaluiert und eine Hypothese erstellt. Darauf aufbauend folgte eine Behandlung. Am nächsten Tag kam der Patient hochmotiviert in die Gruppe und berichtete von mehr „Leichtigkeit“ und „Sicherheit“. Eigenständig hatte er nach der Einheit an der Treppe geübt. Danach konnte an den noch fehlenden Bewegungs-Bausteinen zur Erreichung des Ziels therapeutisch gearbeitet werden.

Der Weg dahin war gekennzeichnet durch die Aktivierung der verlorenen Potenziale des Patienten, Arbeiten an der Leistungsgrenze, immer ständige Erhöhung der Anforderung (Shaping) und Wiederholungen (Repetition). Wichtig im Prozess der Therapie ist jedoch nicht nur das Konzept, sondern auch die Persönlichkeit des Therapeuten: Ständige Präsenz, Empathie und die ansteckende Begeisterung des Therapeuten in der Interaktion mit dem Patienten sind nachgewiesene, zentrale Erfolgsfaktoren (Eckardt, Haase, Hummelsheim 2014).

Nach einer intensiven und spezifischen zweitägigen Therapie kam der spannende Moment als sich der Patienten wieder an die Treppe traute. Das Resultat konnte sich sehen lassen: Er bewältigte die Treppe mehrere Male hoch und runter, völlig sicher und selbstständig! Das Ergebnis konnte man nicht nur erkennen und messbar nachweisen, auch der Patient nahm es mit strahlenden Augen wahr. Es wird seine Lebensqualität noch um ein Wesentliches steigern.

Der Patient und die Kostenträger

In Deutschland entwickeln sich zurzeit bei Kostenträgern und Ärzten Verunsicherungen, ob Verordnungen für zentralneurologische
Patienten dauerhaft sinnvoll sind. Kosten und Aufwand sollen in relevantem Verhältnis möglichst viel Erfolg für die Patienten bringen. Das setzt sowohl Ärzte wie auch Therapeuten unter enormen Druck und schadet der gegenseitigen Wertschätzung. Patienten leiden unter dieser Misere, da sie um ihre Rezepte kämpfen müssen und leider oft verlieren. Dass eine intensive Frequenz bessere Ergebnisse bringt als ein- bis zweimal pro Woche ist nicht erst seit dem Seminar bekannt. (Pilotstudie Eckardt, Liesner, Saborowski; 2007)

In diesem Zusammenhang ist das Thema EBP aktuell, das beide Kursleiter sehr deutlich darstellten. Es zeigt, wie wichtig und hochaktuell die Zusammenarbeit zwischen zwei sonst eher getrennt arbeitenden Bereichen ist.

Resümee

Das Bobath-Konzept berücksichtigt die Vorgaben der evidenzbasierten Medizin und setzt die Kernelemente der DGN in die therapeutische Handlung um. Wie aktiv die Bobath-Szene ist, wurde durch die Publikation von mehr als 15 Studien in den letzten zehn Jahren in Fachzeitschriften deutlich. Die Artikel in diesen Peer Review Journals werden von unabhängigen Gutachtern auf
ihre wissenschaftliche Genauigkeit überprüft. „Das Bobath-Konzept kann den momentanen aktuellen Stand der Neuro- Wissenschaft optimal in die Praxis umsetzen“, so Annunciato zum Abschluss. Voraussetzung jedoch sei ein kontinuierlicher Austausch beider Disziplinen. Professor Nelson Annunciato und Helmut Gruhn werden ihre Zusammenarbeit in Zukunft weiterführen, eine erfreuliche Aussicht für Therapeuten und Patienten.

© Zeitschrift not 5/2016